Der Betsaal – das Besondere seiner Maße

Dem rasch Durchreisenden fällt das außergewöhnliche Ortsbild auf. Aus welcher Richtung man kommt, alle Straßen führen zum Betsaal. Gerade dieser Bau, 1828 als Kirche der evangelischen Brüdergemeinde errichtet, ist nicht nur optisch, sondern auch geistig die Mitte des Ortes und eng mit der Entstehungsgeschichte Wilhelmsdorfs verbunden.

In seiner äußeren Form spiegelt der Betsaal den Ortsplan wieder. Dem quadratischen Kernbau sind an den Eingangsbereichen Elemente vorgelagert. Das mächtige Pyramidendach, das auf der selbsttragenden Deckenkonstruktion aufgebaut ist, wird von einem kleinen Türmchen mit einem Osterlamm geschmückt. Es soll an die Bibelstelle Johannes 1, 29 erinnern: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Die Gründer Wilhelmsdorfs waren beeinflusst von der Theologie Albrecht Bengels (1687 – 1752). Der Mittelpunkt ihres religiösen Lebens bildete ein intensives Bibelstudium.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte eine starke Auswanderungsbewegung ein. Die Auswanderer konnten Entwicklungen der durch die Aufklärung ihnen zu liberal gewordenen Kirche nicht akzeptieren. Die napoleonischen Kriege und durch Missernten verursachte Hungerjahre (1809, 1810, 1816, 1817) wurden als Strafen Gottes angesehen, die das Weltende wahrscheinlich werden ließen.

Sie suchten Bergungsorte, in denen sie sich intensiv auf das Kommen Jesu vorbereiten und in denen sie frei und ungehindert ihren Glauben leben konnten.

Bei der Neugründung konnten sie ihre bauliche Ausdrucksweise in die Planungen einbringen. Der Kirchenraum hat nicht Chor und Schiff, nicht Priester und Laien, sondern: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat.“ Hier soll zum Ausdruck kommen, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Weil man sich auf das Wiederkommen des Herrn ausrichtete, wurde der Betsaal quadratisch, 16 x 16 m, gebaut, die Höhe ist ebenfalls 16 m, und der Saalplatz ist mit 80 x 80 m ebenfalls quadratisch angelegt. Offenb. 21,16: „Und die Stadt ist viereckig angelegt und ihre Länge ist so groß wie die Breite, die Länge und die Breite und die Höhe sind gleich“.

Auf Grund des besonderen Ortsplans wurde Wilhelmsdorf auch als Christianopolis (Christenstadt) bezeichnet.
Der Calwer Dekan Johann Valentin Andreae (1586 – 1654) hat eine Reformschrift verfasst, in der das utopische Stadtmodell für eine christliche kollektivistische Gesellschaft beschrieben wird. Es wird vermutet, dass der Gemeindegründer Gottlieb Wilhelm Hoffmann, der in der Nähe von Calw aufgewachsen ist, durch diese Schrift bezüglich der Gestaltung Wilhelmsdorfs inspiriert wurde.
Unsere Ortsmitte ist sozusagen der bauliche Versuch etwas von dieser Zukunftshoffnung abzubilden. Wer den Betsaal betritt, sollte wissen:

Das Weltende kommt irgendwann gewiss, aber wir wissen, in und unter all dem, was uns erschreckt, glauben wir, kommt unser Herr Jesus Christus. Das gibt Zuversicht, selbst in schwierigen Zeiten.

Wolfgang Link